Messe Magazin

Willkommen in der DDR! Der Westen kommt nach Leipzig

In der DDR herrschte Mangel – auch an Hotelbetten. Das führte während der Frühjahrs- und Herbstmessen zu spannenden Begegnungen zwischen Leipziger Bürgern und Messegästen. Zwei Leipziger erinnern sich.

Inhaltsverzeichnis

Am Ende übernachtete einer gar auf dem Balkon. Der erste schlief schon im Kinderzimmer, der zweite war im Wohnzimmer auf der Couch gebettet. Nach 18 Uhr, „als der Zimmernachweis schon geschlossen hatte“, kam dann ein Dritter. Dem „musste man helfen“, erzählte Erika Herold im Interview mit dem MDR vor etwa zehn Jahren. Der Balkon war die Lösung.

Fünf Ostmark für eine private Übernachtung

Was war da los im Hause Herold? Die Szenerie muss sich irgendwann in den 1960er-, 70er-Jahren in Leipzig abgespielt haben, während einer der Frühjahrs- oder Herbstmessen. Das Phänomen, von dem das Magazin „MDR Zeitreise“ da berichtete, war nicht unüblich: In der Messestadt gab es zu DDR-Zeiten nicht genügend Hotelplätze für alle Messegäste. Also kamen Aussteller und Besucher kurzerhand bei Leipziger Bürgern unter. Ganze fünf Ostmark erhielten Erika Herold und ihr Mann pro Übernachtung und Bett vom „Zimmernachweis“, dem die Schlafplätze koordinierenden Büro. Später wurde ihre Wohnung eine Kategorie höhergestuft. Dann gab es zehn Ostmark.

Zu wenig Hotelbetten gab es nicht nur zu DDR-Zeiten. Auch vor dem Zweiten Weltkrieg fanden Messegäste – damals noch Messeonkels genannt – eine Unterkunft bei Leipziger Bürgern, wie diese historische Postkarte zeigt.
Bildnachweis: Leipziger Messe

Aus temporären Zweck-WGs entstehen Freundschaften

Nachgefragt beim Sohn des Paares, Frank Herold. Dass am Ende ganze drei Gäste in der Wohnung übernachteten, war wohl ein einmaliges Versehen „des Zimmernachweises“. Solche Besuche, wenngleich besser organisiert, erlebte Frank Herold häufiger, im Grunde seine gesamte Kindheit und Jugend über. Die Familie empfing nicht nur zur Frühjahrs- und Herbstmesse Messegäste, sondern auch zur Agra und der damaligen „Messe der Meister von Morgen“. Dann räumte Frank Herold sein Kinderzimmer und übernachtete bei den Eltern.

Der Sohn der Herolds, Frank Herold, wurde 2025 nach knapp 50 Jahren Tätigkeit bei der Leipziger Messe in allen Ehren – unter anderem mit einer der ehemaligen Volvo-Staatskarossen der DDR – verabschiedet.
Bildnachweis: Leipziger Messe

Zumindest im Frühjahr und Herbst beengte sich die Situation in zahlreichen Leipziger Wohnungen. Zwischen den Gastgebern und den Gästen – bei den Herolds oftmals aus dem Stahlkombinat Eisenhüttenstadt – entstanden Freundschaften. Abends saß man gesellig beisammen und debattierte. Frank Herold interessierte das in seinem jungen Alter noch nicht, doch entstanden konkrete Vorteile für ihn. Denn der Aussteller vom Stahlkombinat nahm den kleinen Frank mit auf die Messe und gab ihn als seinen Sohn aus. Was er dann sah? „Bei der Frühjahrsmesse gab es immer die internationalen Pavillons in Halle 16. Da hat man schon einiges kennengelernt, woraus auch eine gewisse Reiselust entstanden ist. Ohne die Messe hätte man diese Einblicke sicherlich nie gehabt in der DDR.“

Der besondere Duft des Westens

Diese Lust aufs Reisen kann Sylvia Ohnsorge nur bestätigen. Auch sie hat als Kind miterlebt, wie ihre Eltern die Zimmer ihrer Wohnung an Messegäste vermieteten. Anders als die Herolds, in deren Wohnung es kein separates Bad gab, war es den Eltern gar gestattet, Bundesbürger aufzunehmen. Und auch bei ihnen gab es Stammgäste. Die kamen von einer Hamburger Bürsten- und Pinselfabrik zu den Frühjahrs- und Herbstmessen und blieben für zwei oder drei Tage. An den Abenden streiften die Gespräche auch immer wieder die Politik und beeinflussten so die politische Einstellung der Eltern. Die Folge: eine kritische Einstellung gegenüber dem SED-Regime und die Sehnsucht nach Freiheit und Reisen.

 

Ähnlich wie bei Frank Herold bekamen Sylvia Ohnsorge und ihre jüngere Schwester nicht viel von den Gesprächen der Erwachsenen mit. In Erinnerung geblieben ist ihr vor allem der Duft. „Wenn die Gäste fort waren, duftete das Kinderzimmer! Nach Westen! Ein Gemisch aus Seife, Fanta und Waschpulver war das“, beschreibt sie den Geruch. Auch sie bekam Einblicke in die Messehallen. Denn ihr Vater hatte eine Sondergenehmigung und bereitete die Stände für die Hamburger vor. So schlüpfte Sylvia Ohnsorge mit aufs Alte Messegelände und griff einige Proben von den ausgestellten Produkten ab. Lippenstifte, in der DDR sonst ungesehene Seifen oder, „das absolute Highlight“, kleine Parfumfläschchen von 4711 oder Tosca erreichten so den elterlichen Haushalt.

Sylvia Ohnsorge hat die Messegäste aus Hamburg in guter Erinnerung behalten.
Bildnachweis: Leipziger Messe

Wie Westprodukte auf Umwegen in die DDR kamen

Westprodukte erreichten die Familie aber nicht nur durch den Umweg über die Messehallen. Die Hamburger brachten auch kleine Geschenke mit, vor allem für die Schwestern. Irgendwann gaben die Eltern regelrecht Bestellungen auf. Persil, Meister Propper, Kleidung und – daher der Geruch – Fanta waren im Gepäck der Bundesbürger. Nicht zuletzt war es auch der eine oder andere D-Mark-Schein, der das Leben der Familie in der DDR ein wenig angenehmer gestaltete.

 

Der Kontakt zu den Hamburgern verlief sich ab 1984. Sylvia Ohnsorges größere Schwester zog wieder in die Wohnung der Eltern ein und es fehlte fortan der Platz für die Messegäste. „Ein wenig bedauernswert“, waren die damals Anfang 20-jährigen Söhne des Hamburger Fabrikanten doch durchaus attraktiv, wie Sylvia Ohnsorge mit einem Lächeln zu ihrem heutigen Ehemann Thomas Ohnsorge hinzufügt. Der lacht und erzählt, dass seine Eltern auch Messegäste aus dem Westen aufgenommen hatten. Erinnerungen daran habe er aber nicht. Wobei, eine! Er und seine Gang hatten eine Vorliebe für die Mercedes-Sterne, die damals noch von den Fahrzeugen der Bundesbürger stibitzt werden konnten. Jedoch: „Es gab auch schlaue Westdeutsche. Die hatten den Stern schon vor ihrer Fahrt in die DDR abgedreht.“

Jetzt teilen:

Share on linkedin
Share on facebook
Share on twitter
Share on email

Weitere Beiträge

Die Geschichte der Leipziger Messen ist untrennbar mit dem Streben der Stadt nach wirtschaftlichem Wachstum und dem Schutz ihrer Handelswege verbunden. Das Messeprivileg und der Schutzbrief Leipzig machten die Stadt einst zum bedeutendsten Messeplatz Europas. Ein Status, der auf kluger Politik, herrschaftlicher Gunst und innovativem Sicherheitsdenken beruhte.
Sie sammeln Nektar, bestäuben Blüten und tragen zur Artenvielfalt bei: Zwölf Bienenvölker leben auf dem Gelände der Leipziger Messe. Fachkundig betreut von einer Imkerin sind sie sichtbares Zeichen für einen nachhaltigen Ansatz, der weit über die Bienenstöcke hinausreicht.
Ein Pergament veränderte alles: Im Jahr 1165 verlieh Markgraf Otto von Meißen Leipzig mit dem Stadt- auch das Marktrecht und verbot Konkurrenzmärkte im Umland. Der Stadtbrief markiert den Anfang von 860 Jahren Messegeschichte.